Union in der Krise: Von Wölfen, Leoparden und der CDU
Die
christdemokratische Hegemonie ist vorbei. Am Ende der Ära Merkel steht
die Union ohne inhaltliches Profil und Visionen nackt da.
Es bröckelt an der christdemokratischen Festung Illustration: Katja Gendikova
In Quentin
Tarantinos „Pulp Fiction“ unterläuft den beiden Auftragskillern Vincent
und Jules ein folgenschweres Missgeschick. Versehentlich eliminieren sie
in ihrem Auto ihren Gefangenen Marvin und müssen sich nun um den
blutüberströmten Autoinnenraum und die Leiche kümmern. Im Haus eines
Freundes warten sie auf die von ihrem Boss versprochene Hilfe. Die
klingelt tatsächlich kurze Zeit später an der Tür und stellt sich auf
denkwürdig pointierte Weise vor: „Mein Name ist Winston Wolf. Ich löse Probleme.“
Und tatsächlich lässt der
von Harvey Keitel gespielte Wolf seinen Worten Taten folgen, indem er
rasch und unaufgeregt Lösungen für die verfahrene Situation findet, um
nach getaner Arbeit ebenso unauffällig wieder zu verschwinden, wie er
gekommen war. Lange Zeit galt die CDU als das politische Äquivalent
dieser Figur, die perfekt den nüchtern-effizienten Umgang mit
unübersichtlichen Krisensituationen verkörpert.
Diesen Appeal verstand die
CDU gar in das umzumünzen, was sich ohne größere Übertreibungen als
christdemokratische Hegemonie beschreiben lässt – die aber nun erstmals
in den letzten fünfzehn Jahren ernsthaft zu bröckeln beginnt. Dafür ist
neben anderen Faktoren der besondere Charakter dieser Hegemonie
verantwortlich. Zu diesen Faktoren gehört vor allem das Ende der Ära Merkel in Verbindung mit einer in der Geschichte der CDU beispiellosen Führungskrise.
Man erinnert sich noch
dunkel daran, wie zukunftsfroh sich die Partei zur Zeit des ersten
Rennens um den Parteivorsitz gab und sich von diesem „Meilenstein“
innerparteilicher (Christ-)Demokratie einen Schub erhoffte, der endlich
die dunklen Wolken der Bundestagswahl 2017 vertreiben würde. Doch schon das knappe Ergebnis des Hamburger Parteitags ließ die Sorgen über das christdemokratische Binnenklima zurückkehren.
Nach einem etwas
verstolperten Beginn als Parteivorsitzende sorgte der von der
CDU-Fraktion im Thüringer Landtag vor etwas mehr als einem Jahr
verursachte Kemmerich-Eklat
letztlich dafür, dass Kramp-Karrenbauer die persönlich integre, aber
für die Partei fatale Entscheidung traf, ihr Amt zur Verfügung zu
stellen.
Die Chefin schimpft
Was folgte, ist bekannt:
eine Vorsitzendenkür, die sich coronabedingt quälend lange hinzog, ein
Kandidat, der sich gar als Opfer einer Intrige der Parteiführung wähnte,
und ein glanzloser Sieg des Gespanns Laschet/Spahn. Damit war das
Führungsvakuum noch keineswegs überwunden, denn bis zum heutigen Tag ist
ungeklärt, ob Laschet oder Söder im Herbst als Kanzlerkandidat antreten
wird.
Bis dahin bleibt aber eben
eine zunehmend entkräftet wirkende Bundeskanzlerin noch im Amt und
Laschet nur ein aufgrund seiner Coronapolitik umstrittener und gar von der Kanzlerin öffentlich kritisierter Ministerpräsident.
Diese Schwierigkeiten, die sich die Partei gewissermaßen selbst
eingebrockt hat – schöne Grüße nach Erfurt! –, sind nur ein Faktor in
der Misere der CDU. Er wiegt aber umso schwerer aufgrund der gesamten
Konstellation.
Das bringt uns zum
eigentümlichen Charakter der christdemokratischen Hegemonie. Der Begriff
der Hegemonie, der auf den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci
zurückgeht, bezeichnet den moralisch-politischen Führungsanspruch einer
Partei oder Bewegung. Gewöhnlich gründet er sich auf bestimmte
Leitideen, die auch über die Partei hinaus gesamtgesellschaftlich
zumindest passive Zustimmung für sich verbuchen können.
Das Besondere an der
christdemokratischen Hegemonie besteht darin, dass ihr Führungsanspruch
im Laufe der letzten fünfzehn Jahre immer weniger auf irgendwelchen
substanziellen Leitideen und spätestens seit der Finanzkrise 2008
zusehends auf der erfolgreichen Selbstdarstellung als Winston Wolf der
deutschen Politik basierte.
Die Christdemokratie
hatte immer weniger inhaltliches Profil und (konservative) Substanz
anzubieten, dafür wurde ein genuin konservativ-christdemokratischer
Politikmodus erkennbar: das beharrliche Management immer neuer Krisen,
deren Folgeprobleme in Nachtsitzungen in Brüssel, Minsk oder Berlin
klein geraspelt wurden.
Das Politikmodell, mit
kleinen Schritte durch die Krisen zu gehen, verkörperte ideal die
Kanzlerin, die „die Dinge vom Ende her denkt“ und die Not des
„Auf-Sicht-Fahrens“ in unübersichtlichen Situationen zur Tugend eines
rein prozedural bestimmten Konservatismus erhob.
Krisenmanagement anstelle von Politik
Die Grundlage der christdemokratischen Hegemonie bestand dabei nicht nur in der Selbstinszenierung als seriöse „Kraft der Mitte“,
die den Laden zusammenhält, sondern auch in der Apostrophierung des
ultrapragmatischen Dauerkrisenmanagements als einzig denkbare Art
der Politik: einer Politik, die sich jeglichen inhaltlichen
Gestaltungsanspruch über den Moment hinaus ausgetrieben hat, ganz zu
schweigen von der Vorstellung von Politik als dem Medium, in dem
politische Gemeinschaften selbstbestimmt ihre kollektiven Bedingungen
des Zusammenlebens aushandeln.
Politik konnte nichts
anderes mehr sein als das Reagieren auf eine volatile Welt und auf
krisenhafte Zuspitzungen, und die CDU konnte sich in dem Ruf sonnen,
dass sie diesen Modus politischen Handelns perfekt oder doch zumindest
besser als die politische Konkurrenz beherrschte. Aber war dieser Ruf
eigentlich jemals gerechtfertigt? Bevor man dieses Narrativ unbesehen
übernimmt, wäre eine gewisse Skepsis angebracht, die sich exemplarisch
an drei Punkten festmachen lässt.
Da ist zunächst die
Eurozonenkrise, deren Management neben dem der Finanzkrise den Ruf der
Christdemokraten als Troubleshooter im Stile eines Mr Wolf begründete.
Schließlich ging beides für Industrie, Banken und Bevölkerung
vergleichsweise glimpflich ab, und nebenbei wurde auch noch Europa
gerettet. Was das Bild aber trübt, ist zum einen die Tatsache, dass die
schmerzhaften Anpassungsleistungen zur Bewältigung der Krise
disproportional den Ländern Südeuropas aufgebürdet wurden.
Die Kosten einer
systemischen Krise wurden von der deutschen Politik unter
christdemokratischer Führung systematisch externalisiert. Zum anderen
verursachte es womöglich das viel gepriesene deutsche Krisenmanagement
selbst, dass sich – durch das Muster des ewig zögernden too little, too late,
das sich durch die diversen Akte der Krise zog – eine griechische
Schuldenmisere, die man durch beherztes finanzielles Eingreifen zu einem
letztlich sehr viel niedrigeren Preis im Keim hätte ersticken können,
zu einer in vielerlei Hinsicht verheerenden Eurozonenkrise auswuchs.
Von der SPD inspiriert
Dass Deutschland recht
unbeschadet durch die langwierige Doppelkrise kam und es nicht zu noch
größeren Verwerfungen kam, ist aber nicht nur das zweifelhafte Verdienst
der Christdemokratie. Vielmehr waren es gerade sozialdemokratische
Regierungsakteure und von ihnen initiierte Politiken, die entscheidend
zum Image der Regierung als Krisenbewältigungsspezialistin beitrugen.
An Beispielen mangelt es nicht,
angefangen bei der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes in der
Finanzkrise bis hin zu den Corona-Nothilfemaßnahmen der Gegenwart. Und
auch unabhängig von Krisensituationen bediente sich die Union immer
wieder sozialdemokratischer Inhalte und deklarierte sie, soweit es
opportun erschien, mit einer Nonchalance zu dem um, was man eigentlich
schon immer selbst vertreten hätte.
So machen das Konservative nun
einmal, wenn sich der Lauf der Zeit beim besten Willen nicht mehr
aufhalten lässt. Bleibt zuletzt noch das einzig verbliebene inhaltliche
Prestigeprojekt der „schwarzen Null“ – an der die Christdemokratie gegen
alle Widerstände festhielt und daran das Narrativ der soliden
Haushaltspolitik knüpfte –, die Europa als Vorbild der Sparsamkeit
dienen soll. Doch dies war vor allem Rhetorik.
Denn von der Bevölkerung wurde ja
nicht unbedingt auf gut konservative Art gefordert, den Gürtel enger zu
schnallen und finanzielle Opfer zu bringen. Die schwarze Null wurde
nicht so sehr durch fiskalpolitische Ausgabendisziplin ermöglicht als
vielmehr durch sprudelnde Steuereinnahmen, einen florierenden
Exportsektor, niedrige Zinsen und die Möglichkeit des Staates, sich
zum Nulltarif Geld zu leihen – Faktoren, auf die die christdemokratische
Regierungspolitik nur bedingt Einfluss hatte.
Doch die schwarze Null ist nun
passé und nicht nur sie. Auch die Krisenkompetenz der CDU schwindet
angesichts der vielfältigen Versäumnisse im Umgang mit der Pandemie
rasant. Nun rächt sich die Verengung der Christdemokratie auf das
pragmatische Auf-Sicht-Fahren.
Ändern, damit es bleibt, wie es ist
Denn wenn das immer mehr zum
Schlingerkurs wird und zudem Führungspersonal fehlt, dem man gerne das
Steuer anvertraut, steht man als Partei plötzlich mit leeren Händen da –
sieht man einmal von denen in der Union ab, die sich zu allem Überfluss
mit Maskendeals und anderem bereichert haben.
Dass sich die christdemokratische
Hegemonie nun als tönern erweist, hat aber zuletzt auch damit zu tun,
dass sie ihren Prozeduralkonservatismus des ewigen Krisenmanagements
nicht so konsequent zu Ende gedacht hat, wie die adlige Titelfigur aus Giuseppe Tomasi de Lampedusas „Der Leopard“,
die angesichts der Unwägbarkeiten der Zeit die Maxime verkündet: Alles
muss sich ändern, damit alles bleiben kann, wie es ist!
In dieser paradoxen Formulierung
scheint eine Erweiterung des Prozeduralkonservatismus im Sinne eines
konsequenten Präventionsregimes auf, in dessen Rahmen ständig mit Blick
auf die ungewisse Zukunft an kleinen Schrauben gedreht werden muss, um
das zu erreichen, was heute gerne mit dem schillernden Begriff der
Resilienz bezeichnet wird. Doch dazu bräuchte es Entwürfe, Szenarien und
Gestaltungswillen über das Hier und Heute hinaus.
Bis zu diesem Punkt ist das
CDU-Krisenmanagement nur selten gelangt, weder in der Eurozonenkrise
noch in der aktuellen Pandemie. Diese Woche hat Armin Laschet nun sein
mit heißer Nadel gestricktes Wahlprogramm
vorgestellt und genau solche Gestaltungsansprüche zumindest angedeutet.
Es wird sich zeigen, ob dies noch verfängt oder ob die Bilanz auch im
Management der parteiinternen Krise letztlich lautet: Too little, too late.