Experte über Anti-Terror-Krieg nach 9/11: „Eine Etappe im Abstieg des Westens“
20 Jahre US-geführter „Krieg gegen den Terror“ haben den Terrorismus nicht besiegt. Ganz im Gegenteil, sagt der Islamwissenschaftler Guido Steinberg.
taz: Herr Steinberg, was sagen der Anschlag am Flughafen von Kabul letzte Woche und die Antwort der USA darauf über den 20 Jahre währenden Krieg gegen den Terror?
Guido Steinberg: Das ist der Versuch des Islamischen Staats, es so erscheinen zu lassen, als würden die Amerikaner jetzt unter seinem Feuer Afghanistan verlassen. Die Bilder werden die politischen Kosten des Abzugs für die Regierung Biden erhöhen. Der Anschlag zeigt, dass die Amerikaner ihr Ziel, den Terrorismus in Afghanistan und darüber hinaus auszumerzen, nicht erreicht haben. Der US-Drohnenangriff auf IS-Personal ist der Versuch, Stärke zu zeigen, doch wird er den Eindruck nicht beseitigen können, dass die US-Regierung überhastet abgezogen ist und so das Chaos am Flughafen mitversursacht hat, das den Anschlag erst möglich machte.
ist Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und war bis 2005 Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.
US-Präsident Biden hat den Abzug damit begründet, dass von Afghanistan aus kein internationaler Terroranschlag mehr verübt werden wird.
Dass einer Organisation gelingt, noch einmal einen Anschlag vom Ausmaß wie am 11. September zu verüben, ist zurzeit unwahrscheinlich. Aber in Afghanistan haben wir heute mehrere Gruppen, die darauf abzielen, Anschläge zu verüben – in Afghanistan, in Nachbarländern und vielleicht weltweit. Wir haben den IS, al-Qaida und kleine usbekische Gruppierungen. Das Terrorproblem ist nicht beseitigt. Biden hat versucht, seinen Abzug auf unzulässige Art zu beschönigen. Insgesamt gibt es 2020/21 mehr islamistische Terroristen an mehr Orten weltweit und die verübten in den letzten Jahren mehr Anschläge mit mehr Todesopfern als um 2001. Vor allem in Syrien, Irak und Afghanistan ist die Situation schlimmer als 2001.
20 Jahre nach ihrem Sieg über die Taliban konnten die USA jetzt deren Rückkehr an die Macht in Kabul nicht verhindern. Was bedeutet das politisch?
Das ist eine schwere Niederlage. Sie hat sich seit Februar 2020 abgezeichnet, als die Trump-Administration in ihrem Wunsch, Afghanistan zu verlassen, den Taliban das Land überlassen hat, ohne eigene Forderungen durchzusetzen.
Hat Trump nicht nur eingestanden, was offensichtlich war: dass die USA in Afghanistan militärisch nicht gewinnen konnten?
Dieser Text ist Teil des taz-Dossiers zu den Terroranschlägen vom 11. September vor 20 Jahren. Der Schwerpunkt erscheint in der Ausgabe vom 31. August. Unsere Autor*innen beschäftigen sich darin mit den Folgen des Anschlags. Wie haben sie ihn erlebt? Wie hängt 9/11 mit der Krise in Afghanistan zusammen? Welche Verschörungsmythen bestehen nach wie vor?
Das ist umstritten. Die meisten Beobachter gingen davon aus, dass man mit einer relativ kleinen Truppe von bis zu 15.000 Mann einen Zusammenbruch des Staates Afghanistan verhindern könne. Trump hatte nicht nur eine Option.
Welche Fehler haben die USA und ihre Verbündeten in der Sicherheitspolitik seit 9/11 gemacht?
Der größte Fehler vor allem der USA war, sich zu Überreaktionen hinreißen zu lassen. Terroristen wollen mit öffentlichkeitswirksamen Anschlägen den Gegner zu Fehlern provozieren. Die USA haben die Organisation al-Qaida zu einem großen weltweiten Netzwerk aufgeblasen, das es nun gelte, mit ganz großen Maßnahmen zu bekämpfen wie u.a. mit der Invasion in Afghanistan, der Verfolgung von al-Qaida-Terroristen und solchen, die man dafür hielt in vielen Ländern der Welt und dann mit dem Irak-Krieg. Das war nicht angemessen. Die Mitgliederzahl von al-Qaida ging nie über eine eher niedrige vierstellige Zahl hinaus. Auch Guantanamo fällt unter die Überreaktionen. Es hätte gereicht, Taliban als Kriegsgefangene zu nehmen und al-Qaida-Kämpfer mit Verbindungen zum 11. September vor Gericht zu stellen.
Der Krieg in Afghanistan war der erste Bündnisfall der Nato. Hat er die Nato verändert und ihrem Ruf geschadet?
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes war die wichtigste Funktion des Nordatlantischen Bündnisses weggefallen. Die Nato suchte Ersatzprojekte. Die Amerikaner sind mit großem Verve in den Afghanistan-Einsatz gegangen, haben aber gemerkt, dass ihre Verbündeten in ihrem Windschatten zumindest militärisch sehr wenig machen. Das hat dem Zusammenhalt geschadet. Das Verhalten der Deutschen im Norden Afghanistans, die sich ja fast konstant geweigert haben, am Kampf gegen die Taliban teilzunehmen, hat unser Verhältnis negativ beeinflusst.
Offiziell war der Krieg gegen den Terror eine Defensivreaktion der USA auf den 11. September. Doch wurde er nicht spätestens mit dem Irak-Krieg zu einem neo-imperialistischen Projekt, um hegemoniale Ziele durchzusetzen?
Das ist nicht mein Vokabular, aber die Beschreibung ist richtig. Der Krieg in Afghanistan war sicherheitspolitisch nachvollziehbar und gerechtfertigt, denn damit wurden diejenigen angegriffen, welche die Täter vom 11. September beherbergt hatten. Die Invasion des Irak aber hat mit dem 11. September nichts zu tun. Das Regime von Saddam Hussein hatte keine Beziehungen zu islamistischen Terroristen, im Gegenteil, er hat sie bekämpft.
In der Diagnose der Bush-Administration hatte der Irak mit dem 11. September zu tun, weil al-Qaida im Nahen Osten entstanden ist im Kampf islamistischer Bewegungen gegen ihre Regierungen in Kairo und Riad. Diese haben sie gewaltsam unterdrückt, worauf die Islamisten nach Afghanistan gezogen sind und von dort die USA angegriffen haben, um sie zum Rückzug aus Ägypten und Saudi-Arabien zu zwingen. Diese Diagnose war richtig, doch hat Bush den unverzeihlichen Fehler begangen, den Irak anzugreifen, um dort einen „Leuchtturm der Demokratie“ zu schaffen, der die Demokratisierung der gesamten Region ermöglichen und so die Entstehung von Terrororganisationen dort verhindern sollte. Das war schon damals eine absurde Idee.
Wurde mit Osama Bin Ladens Tötung 2011 al-Qaida besiegt?
Al-Qaida hatte sich schon seit 2003 durch die Schaffung von Regionalorganisationen in Saudi-Arabien, Algerien, Jemen und Irak verändert. Die haben häufig die terroristische Initiative übernommen. Aus der irakischen al-Qaida ist dann der IS hervorgegangen. Dieser Prozess war 2011 schon vollendet und al-Qaida war da schon geschwächt. Seit dem Anschlag in London 2005 hatte al-Qaida keinen großen Terroranschlag mehr in der westlichen Welt verübt. Bin Ladens Tötung war ein Ereignis in einer ganzen Kette, denn die Amerikaner töteten zwischen 2010 und 2012 die wichtigsten al-Qaida-Figuren in Pakistan. Das schwächte die Organisation erheblich und führte ab 2013/14 dazu, dass der IS erstarken und al-Qaida den Rang ablaufen konnte.
Wenn es heute weltweit mehr Dschihadisten als 2001 gibt, hat der Krieg gegen den Terror dann mehr Feinde produziert als besiegt?
Ursache und Wirkung nachzuweisen ist schwierig. Man wird nein sagen müssen, wenn man argumentiert, dass die Ideologie des Salafismus ursächlich ist für das Erstarken des Dschihadismus. Die Dschihadisten wären auch dann erstarkt, wenn die Amerikaner „vernünftiger“ reagiert hätten. Aber in einzelnen Konfliktfeldern kann man schon nachweisen, dass die Präsenz der Amerikaner zu einer besonders heftigen Gegenreaktion geführt hat. 2008/09 zählten die Taliban einige Zehntausend, heute sprechen wir von über 100.000 Kämpfern, die an der Offensive teilgenommen haben.
Nennen Sie ein Beispiel für eine Gegenreaktion.
Insgesamt war der Ansatz der USA zu breit, es lag weniger an einzelnen Maßnahmen. Die Behandlung Gefangener in Guantanamo oder Abu Ghraib war ein Verbrechen. Aber dass sich deswegen junge Leute den Taliban oder Dschihadisten anschließen, ist nicht nachzuweisen. Nachweisen kann man hingegen, dass jede Intervention in der islamischen Welt dazu führte, dass sich die Dschihadisten neue Rekrutierungspools erschließen konnten. Zum Beispiel das Vorgehen der Russen 1999 in Tschetschenien. Da haben sich viele Türken den Dschihadisten angeschlossen, weil Tschetschenien für sie aus historischen Gründen so wichtig ist. Auch der Irak-Krieg 2003 hatte eine enorme Mobilisierungsfunktion und natürlich auch Syrien. Das war die wichtigste Etappe im letzten Jahrzehnt und hat mobilisiert in einer Art, wie sich das niemand hat vorstellen können.
Vor allem die Präsenz von Ausländern in einem Gebiet, das Muslime für sich beanspruchen, mobilisiert. Denn die Idee, dass Muslime sich dagegen zu wehren haben, ist sehr wirkmächtig.
Im Syrien-Konflikt spielen die USA nur eine Nebenrolle.
Richtig. Ursächlich für das Erstarken der Terroristen sind neben amerikanischen Interventionen auch die russische in Tschetschenien 1999 und die äthiopische in Somalia 2006 sowie der Kampf von Regimen wie in Syrien gegen ihre eigene Bevölkerung.
Hat der Krieg gegen den Terror dem Ruf der USA geschadet?
Viele Einzelmaßnahmen haben dem Ruf der USA geschadet, am meisten der Irak-Krieg. Der war ein schwerer Fehler. Er hat den USA selbst viel mehr geschadet als genützt. Die enormen Kosten stehen in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Die Amerikaner haben ein halbwegs stabiles Regime gestürzt und an seine Stelle eine Regierung gesetzt, die sie den Iranern auslieferten. Nur noch einige tausend US-Soldaten stehen einer fast vollständigen iranischen Machtergreifung im Irak im Wege. Fast alle Beobachter schütteln den Kopf, dass eine Supermacht in ihrem politischen Urteil so falsch liegen kann.
Hat der Krieg gegen den Terror Chinas Aufstieg beschleunigt?
Das kann man wohl sagen. Zwar ist Chinas Aufstieg unabhängig von den Ereignissen in Afghanistan oder im Irak, aber der relative Abstieg der USA hat mit den dortigen Kriegen und ihren enormen Kosten zu tun. Der machtpolitische Vorsprung auf die Chinesen und die Russen ist in dieser Zeit geschrumpft. Bisher ist das nur ein relativer Abstieg, aber drei amerikanische Regierungen haben inzwischen die Konzentration auf den Nahen Osten und Afghanistan als Fehler gesehen: Obama hat vom „Pivot to Asia“ gesprochen, Trump hat China als wichtigsten Konkurrenten ausgemacht und im Umfeld von Biden wird gar von einer Art neuem Kalten Krieg gesprochen.
China hat ein Terrorismusproblem mit militanten Uiguren. In China werden Muslime stark unterdrückt. Warum sind die USA für Dschihadisten trotzdem der Erzfeind, während niemand zum Dschihad gegen Peking aufruft?
Die Amerikaner waren in den 90er Jahren die verbleibende Supermacht und auch diejenige, die in den Heimatländern der Dschihadisten besonders stark vertreten war, also etwa in Saudi-Arabien, Ägypten, Pakistan, Afghanistan, Irak. Das macht die USA zu einem natürlichen Gegner. In dem Maße aber, in dem China ebenfalls zur Supermacht wird mit Interessen in all den Staaten, werden auch Chinesen zum Gegner.
Es stimmt, dass China in der Behandlung der „eigenen“ Terroristen noch viel brutaler reagiert hat. Was ich als amerikanische Ãœberreaktion beschrieben habe, sehen wir auch bei den Chinesen. Es gibt einige hundert uigurische Terroristen, die vor einigen Jahren wenige Messeranschläge verübt haben, was nur wenig Einfluss auf die innere Sicherheit Chinas hatte. Doch die Chinesen versuchen inzwischen zehn, elf Millionen Uiguren vollständig „umzuerziehen“ und ihre Identität auszulöschen. Chinas Ãœberreaktion ist viel schlimmer, aber auch viel effektiver.
Zur Terrorbekämpfung wurden weltweit sogenannte Sicherheitsgesetze verschärft. Wie hat sich das auf die politische Kultur bei uns ausgewirkt?
Das deutsche Beispiel ist nicht so aussagekräftig, weil sich die sicherheitspolitischen Reformen in einem engen Rahmen bewegt haben und das zugleich nicht dazu geführt hat, dass unsere Sicherheitsbehörden effektiv gegen islamistische oder rechtsextreme Terroristen vorgehen. Die Toleranz gegenüber sicherheitspolitischen Maßnahmen ist aber enorm gewachsen.
Ein Beispiel ist der Umgang mit deutschen Terrorverdächtigen im Ausland. Als sich die Bundesregierung nach Ansicht der deutschen Öffentlichkeit nicht hinreichend um Murat Kurnaz gekümmert hatte, der in Guantanamo einsaß, gab es große Entrüstung. Heute sehen wir, dass sich über hundert deutsche terrorverdächtige Männer und Frauen in syrisch-kurdischen Gefängnissen und Lagern aufhalten. Als deutsche Staatsbürger haben sie ein Anrecht auf eine Rückkehr nach Deutschland. Dass die Bundesregierung sich da seit vier Jahren weigert zu handeln, findet in der Öffentlichkeit kaum einen Widerhall. Das ist ein Hinweis darauf, dass auch wir uns verändert haben. Viele Maßnahmen, die wir vor zwanzig Jahren noch für unvorstellbar oder skandalös gehalten haben, akzeptieren wir heute, wenn es sich denn um potenziell gefährliche Terroristen handelt. Und das gilt nicht nur für Deutschland.
Hat die Terrorismusbekämpfung zu sehr die militärische Seite des Konfliktes betont und Fragen von Identität, Bildung, Teilhabe und sozialem Ausgleich vernachlässigt?
Ich glaube nicht, dass das für Deutschland gilt. Wenn man insgesamt den Krieg gegen den Terror sieht, insbesondere in Afghanistan und Irak, ist die militärische Seite überbewertet worden. Auch bei Mali kann man so argumentieren, in Deutschland sehe ich das eher weniger, auch weil es bei uns fast keine militärische Terrorismusbekämpfung gibt. Seitdem das KSK vor 2008 in Afghanistan mitgekämpft hat, gibt es das nicht mehr. Unsere Sicherheitsbehörden haben aus meiner Sicht eher Schwächen in der repressiven Bekämpfung, während gleichzeitig eine große Präventions- und Deradikalisierungsindustrie entstanden ist. Ich wundere mich eher darüber, wieviele Präventionsprojekte es in Deutschland für die ein- bis zweitausend Dschihadisten hier gibt.
Was müsste geschehen, um die Zahl der dschihadistischen Akteure zu reduzieren?
Stabilität ist in der Regel das beste Gegenmittel, weil Staaten selbst meist gut in der Lage sind, die eigenen Terroristen zu bekämpfen. Dazu müssen die Staaten aber stabil sein und dazu gehört auch ein gewisses Maß an Legitimität sowie Ressourcen. Derzeit herrscht in vielen Weltregionen Instabilität. Man sieht das vor allem im Nahen Osten und Nordafrika seit 2011, im Irak schon seit 2003, in Afghanistan seit 2001. Diese Staaten müssen stabiler werden und aus sich heraus mit der eigenen Opposition und den eigenen Terroristen besser klarkommen. Geschieht dies nicht, wird sich die Lage nicht grundsätzlich verbessern. Die Fähigkeit auswärtiger Akteure wie der USA, der Russen oder Chinesen ist begrenzt, wenn sie weitab der eigenen Grenzen operieren.
Favorisiert Ihr Plädoyer für Stabilität nicht autoritäre oder gar diktatorische Regime und ist das letzlich eine Absage an Demokratie?
Fakt ist, ein stabiler autoritärer Staat wie etwa Saudi-Arabien ist einem Bürgerkriegsstaat vorzuziehen. Aber die Situation ist umso besser, je legitimer ein Regime ist. Ein starker autoritärer Staat wie Saudi-Arabien mag oberflächlich für Stabilität sorgen, aber sorgt vielleicht auch dafür, dass die Opposition den bewaffneten Kampf beginnt, wie Osama bin Laden das gemacht hat. Es wäre also viel besser, würde das Regime in Saudi-Arabien über noch mehr Legitimität verfügen.
Die Herrscher in Riad beteiligen ja schon die Bevölkerung an den Öleinnahmen und haben auch eine historische Legitimität, es sieht also nicht so schlecht aus wie anderswo. Momentan sind wir aber in einer Situation, in der Staaten wie Syrien, Libyen, Jemen oder vielleicht auch Irak vollkommen zerbrechen. Da ist autoritäre Stabilität erstmal besser – für die Menschen dort, für die Region und für uns. Zufrieden geben sollten wir uns damit nicht. Aber Afghanistan, Irak und Mali zeigen unsere Grenzen, solche Staaten tatsächlich auf eine neue Grundlage zu stellen.
Was wird vom Krieg gegen den Terror international bleiben?
Diese zwanzig Jahre werden eingehen als eine weitere Etappe im Abstieg des Westens in der Welt. Der Krieg gegen den Terror ist Teil einer Phase, die mit dem Ende des Kalten Krieges Mitte der 80er Jahre begann. Wir waren Zeugen einer Ära, in der vor allem die USA geglaubt haben, dass sie nicht nur die Weltpolitik bestimmen können, sondern auch die Politik in einzelnen sehr fremden Staaten wie etwa Afghanistan und Irak, also dass sie die Welt zum Besseren verändern können. Diese Illusion führte dazu, dass die Amerikaner große innenpolitische und wirtschaftliche Probleme haben und relativ zu China abgestiegen sind. Das wird das wichtigste Ergebnis bleiben. Ansonsten sind die Organisationen der Terrorszene heute etwas schwächer, aber die Gesamtszene stärker. Denn es gibt mehr junge Dschihadisten in mehr Ländern, die eine Bedrohung für ihre Gegner darstellen, zu denen auch China gehören wird.
Diese fragmentierte Szene werden wir noch einige Jahrzehnte erleben. Das zeigt auch das aktuelle Attentat in Kabul: Da bestimmen jetzt neue Akteure das Geschehen, die nicht mehr viel zu tun haben mit al-Qaida 2001. Wir können nur hoffen, dass wir das wenigstens in unser näheren Umgebung unter Kontrolle halten können.
(Langfassung des Interviews aus der Printausgabe der taz vom 31. August 2021)
Experte über Anti-Terror-Krieg nach 9/11: „Eine Etappe im Abstieg des Westens“
20 Jahre US-geführter „Krieg gegen den Terror“ haben den Terrorismus nicht besiegt. Ganz im Gegenteil, sagt der Islamwissenschaftler Guido Steinberg.
taz: Herr Steinberg, was sagen der Anschlag am Flughafen von Kabul letzte Woche und die Antwort der USA darauf über den 20 Jahre währenden Krieg gegen den Terror?
Guido Steinberg: Das ist der Versuch des Islamischen Staats, es so erscheinen zu lassen, als würden die Amerikaner jetzt unter seinem Feuer Afghanistan verlassen. Die Bilder werden die politischen Kosten des Abzugs für die Regierung Biden erhöhen. Der Anschlag zeigt, dass die Amerikaner ihr Ziel, den Terrorismus in Afghanistan und darüber hinaus auszumerzen, nicht erreicht haben. Der US-Drohnenangriff auf IS-Personal ist der Versuch, Stärke zu zeigen, doch wird er den Eindruck nicht beseitigen können, dass die US-Regierung überhastet abgezogen ist und so das Chaos am Flughafen mitversursacht hat, das den Anschlag erst möglich machte.
ist Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und war bis 2005 Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.
US-Präsident Biden hat den Abzug damit begründet, dass von Afghanistan aus kein internationaler Terroranschlag mehr verübt werden wird.
Dass einer Organisation gelingt, noch einmal einen Anschlag vom Ausmaß wie am 11. September zu verüben, ist zurzeit unwahrscheinlich. Aber in Afghanistan haben wir heute mehrere Gruppen, die darauf abzielen, Anschläge zu verüben – in Afghanistan, in Nachbarländern und vielleicht weltweit. Wir haben den IS, al-Qaida und kleine usbekische Gruppierungen. Das Terrorproblem ist nicht beseitigt. Biden hat versucht, seinen Abzug auf unzulässige Art zu beschönigen. Insgesamt gibt es 2020/21 mehr islamistische Terroristen an mehr Orten weltweit und die verübten in den letzten Jahren mehr Anschläge mit mehr Todesopfern als um 2001. Vor allem in Syrien, Irak und Afghanistan ist die Situation schlimmer als 2001.
20 Jahre nach ihrem Sieg über die Taliban konnten die USA jetzt deren Rückkehr an die Macht in Kabul nicht verhindern. Was bedeutet das politisch?
Das ist eine schwere Niederlage. Sie hat sich seit Februar 2020 abgezeichnet, als die Trump-Administration in ihrem Wunsch, Afghanistan zu verlassen, den Taliban das Land überlassen hat, ohne eigene Forderungen durchzusetzen.
Hat Trump nicht nur eingestanden, was offensichtlich war: dass die USA in Afghanistan militärisch nicht gewinnen konnten?
Dieser Text ist Teil des taz-Dossiers zu den Terroranschlägen vom 11. September vor 20 Jahren. Der Schwerpunkt erscheint in der Ausgabe vom 31. August. Unsere Autor*innen beschäftigen sich darin mit den Folgen des Anschlags. Wie haben sie ihn erlebt? Wie hängt 9/11 mit der Krise in Afghanistan zusammen? Welche Verschörungsmythen bestehen nach wie vor?
Das ist umstritten. Die meisten Beobachter gingen davon aus, dass man mit einer relativ kleinen Truppe von bis zu 15.000 Mann einen Zusammenbruch des Staates Afghanistan verhindern könne. Trump hatte nicht nur eine Option.
Welche Fehler haben die USA und ihre Verbündeten in der Sicherheitspolitik seit 9/11 gemacht?
Der größte Fehler vor allem der USA war, sich zu Überreaktionen hinreißen zu lassen. Terroristen wollen mit öffentlichkeitswirksamen Anschlägen den Gegner zu Fehlern provozieren. Die USA haben die Organisation al-Qaida zu einem großen weltweiten Netzwerk aufgeblasen, das es nun gelte, mit ganz großen Maßnahmen zu bekämpfen wie u.a. mit der Invasion in Afghanistan, der Verfolgung von al-Qaida-Terroristen und solchen, die man dafür hielt in vielen Ländern der Welt und dann mit dem Irak-Krieg. Das war nicht angemessen. Die Mitgliederzahl von al-Qaida ging nie über eine eher niedrige vierstellige Zahl hinaus. Auch Guantanamo fällt unter die Überreaktionen. Es hätte gereicht, Taliban als Kriegsgefangene zu nehmen und al-Qaida-Kämpfer mit Verbindungen zum 11. September vor Gericht zu stellen.
Der Krieg in Afghanistan war der erste Bündnisfall der Nato. Hat er die Nato verändert und ihrem Ruf geschadet?
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes war die wichtigste Funktion des Nordatlantischen Bündnisses weggefallen. Die Nato suchte Ersatzprojekte. Die Amerikaner sind mit großem Verve in den Afghanistan-Einsatz gegangen, haben aber gemerkt, dass ihre Verbündeten in ihrem Windschatten zumindest militärisch sehr wenig machen. Das hat dem Zusammenhalt geschadet. Das Verhalten der Deutschen im Norden Afghanistans, die sich ja fast konstant geweigert haben, am Kampf gegen die Taliban teilzunehmen, hat unser Verhältnis negativ beeinflusst.
Offiziell war der Krieg gegen den Terror eine Defensivreaktion der USA auf den 11. September. Doch wurde er nicht spätestens mit dem Irak-Krieg zu einem neo-imperialistischen Projekt, um hegemoniale Ziele durchzusetzen?
Das ist nicht mein Vokabular, aber die Beschreibung ist richtig. Der Krieg in Afghanistan war sicherheitspolitisch nachvollziehbar und gerechtfertigt, denn damit wurden diejenigen angegriffen, welche die Täter vom 11. September beherbergt hatten. Die Invasion des Irak aber hat mit dem 11. September nichts zu tun. Das Regime von Saddam Hussein hatte keine Beziehungen zu islamistischen Terroristen, im Gegenteil, er hat sie bekämpft.
In der Diagnose der Bush-Administration hatte der Irak mit dem 11. September zu tun, weil al-Qaida im Nahen Osten entstanden ist im Kampf islamistischer Bewegungen gegen ihre Regierungen in Kairo und Riad. Diese haben sie gewaltsam unterdrückt, worauf die Islamisten nach Afghanistan gezogen sind und von dort die USA angegriffen haben, um sie zum Rückzug aus Ägypten und Saudi-Arabien zu zwingen. Diese Diagnose war richtig, doch hat Bush den unverzeihlichen Fehler begangen, den Irak anzugreifen, um dort einen „Leuchtturm der Demokratie“ zu schaffen, der die Demokratisierung der gesamten Region ermöglichen und so die Entstehung von Terrororganisationen dort verhindern sollte. Das war schon damals eine absurde Idee.
Wurde mit Osama Bin Ladens Tötung 2011 al-Qaida besiegt?
Al-Qaida hatte sich schon seit 2003 durch die Schaffung von Regionalorganisationen in Saudi-Arabien, Algerien, Jemen und Irak verändert. Die haben häufig die terroristische Initiative übernommen. Aus der irakischen al-Qaida ist dann der IS hervorgegangen. Dieser Prozess war 2011 schon vollendet und al-Qaida war da schon geschwächt. Seit dem Anschlag in London 2005 hatte al-Qaida keinen großen Terroranschlag mehr in der westlichen Welt verübt. Bin Ladens Tötung war ein Ereignis in einer ganzen Kette, denn die Amerikaner töteten zwischen 2010 und 2012 die wichtigsten al-Qaida-Figuren in Pakistan. Das schwächte die Organisation erheblich und führte ab 2013/14 dazu, dass der IS erstarken und al-Qaida den Rang ablaufen konnte.
Wenn es heute weltweit mehr Dschihadisten als 2001 gibt, hat der Krieg gegen den Terror dann mehr Feinde produziert als besiegt?
Ursache und Wirkung nachzuweisen ist schwierig. Man wird nein sagen müssen, wenn man argumentiert, dass die Ideologie des Salafismus ursächlich ist für das Erstarken des Dschihadismus. Die Dschihadisten wären auch dann erstarkt, wenn die Amerikaner „vernünftiger“ reagiert hätten. Aber in einzelnen Konfliktfeldern kann man schon nachweisen, dass die Präsenz der Amerikaner zu einer besonders heftigen Gegenreaktion geführt hat. 2008/09 zählten die Taliban einige Zehntausend, heute sprechen wir von über 100.000 Kämpfern, die an der Offensive teilgenommen haben.
Nennen Sie ein Beispiel für eine Gegenreaktion.
Insgesamt war der Ansatz der USA zu breit, es lag weniger an einzelnen Maßnahmen. Die Behandlung Gefangener in Guantanamo oder Abu Ghraib war ein Verbrechen. Aber dass sich deswegen junge Leute den Taliban oder Dschihadisten anschließen, ist nicht nachzuweisen. Nachweisen kann man hingegen, dass jede Intervention in der islamischen Welt dazu führte, dass sich die Dschihadisten neue Rekrutierungspools erschließen konnten. Zum Beispiel das Vorgehen der Russen 1999 in Tschetschenien. Da haben sich viele Türken den Dschihadisten angeschlossen, weil Tschetschenien für sie aus historischen Gründen so wichtig ist. Auch der Irak-Krieg 2003 hatte eine enorme Mobilisierungsfunktion und natürlich auch Syrien. Das war die wichtigste Etappe im letzten Jahrzehnt und hat mobilisiert in einer Art, wie sich das niemand hat vorstellen können.
Vor allem die Präsenz von Ausländern in einem Gebiet, das Muslime für sich beanspruchen, mobilisiert. Denn die Idee, dass Muslime sich dagegen zu wehren haben, ist sehr wirkmächtig.
Im Syrien-Konflikt spielen die USA nur eine Nebenrolle.
Richtig. Ursächlich für das Erstarken der Terroristen sind neben amerikanischen Interventionen auch die russische in Tschetschenien 1999 und die äthiopische in Somalia 2006 sowie der Kampf von Regimen wie in Syrien gegen ihre eigene Bevölkerung.
Hat der Krieg gegen den Terror dem Ruf der USA geschadet?
Viele Einzelmaßnahmen haben dem Ruf der USA geschadet, am meisten der Irak-Krieg. Der war ein schwerer Fehler. Er hat den USA selbst viel mehr geschadet als genützt. Die enormen Kosten stehen in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Die Amerikaner haben ein halbwegs stabiles Regime gestürzt und an seine Stelle eine Regierung gesetzt, die sie den Iranern auslieferten. Nur noch einige tausend US-Soldaten stehen einer fast vollständigen iranischen Machtergreifung im Irak im Wege. Fast alle Beobachter schütteln den Kopf, dass eine Supermacht in ihrem politischen Urteil so falsch liegen kann.
Hat der Krieg gegen den Terror Chinas Aufstieg beschleunigt?
Das kann man wohl sagen. Zwar ist Chinas Aufstieg unabhängig von den Ereignissen in Afghanistan oder im Irak, aber der relative Abstieg der USA hat mit den dortigen Kriegen und ihren enormen Kosten zu tun. Der machtpolitische Vorsprung auf die Chinesen und die Russen ist in dieser Zeit geschrumpft. Bisher ist das nur ein relativer Abstieg, aber drei amerikanische Regierungen haben inzwischen die Konzentration auf den Nahen Osten und Afghanistan als Fehler gesehen: Obama hat vom „Pivot to Asia“ gesprochen, Trump hat China als wichtigsten Konkurrenten ausgemacht und im Umfeld von Biden wird gar von einer Art neuem Kalten Krieg gesprochen.
China hat ein Terrorismusproblem mit militanten Uiguren. In China werden Muslime stark unterdrückt. Warum sind die USA für Dschihadisten trotzdem der Erzfeind, während niemand zum Dschihad gegen Peking aufruft?
Die Amerikaner waren in den 90er Jahren die verbleibende Supermacht und auch diejenige, die in den Heimatländern der Dschihadisten besonders stark vertreten war, also etwa in Saudi-Arabien, Ägypten, Pakistan, Afghanistan, Irak. Das macht die USA zu einem natürlichen Gegner. In dem Maße aber, in dem China ebenfalls zur Supermacht wird mit Interessen in all den Staaten, werden auch Chinesen zum Gegner.
Es stimmt, dass China in der Behandlung der „eigenen“ Terroristen noch viel brutaler reagiert hat. Was ich als amerikanische Ãœberreaktion beschrieben habe, sehen wir auch bei den Chinesen. Es gibt einige hundert uigurische Terroristen, die vor einigen Jahren wenige Messeranschläge verübt haben, was nur wenig Einfluss auf die innere Sicherheit Chinas hatte. Doch die Chinesen versuchen inzwischen zehn, elf Millionen Uiguren vollständig „umzuerziehen“ und ihre Identität auszulöschen. Chinas Ãœberreaktion ist viel schlimmer, aber auch viel effektiver.
Zur Terrorbekämpfung wurden weltweit sogenannte Sicherheitsgesetze verschärft. Wie hat sich das auf die politische Kultur bei uns ausgewirkt?
Das deutsche Beispiel ist nicht so aussagekräftig, weil sich die sicherheitspolitischen Reformen in einem engen Rahmen bewegt haben und das zugleich nicht dazu geführt hat, dass unsere Sicherheitsbehörden effektiv gegen islamistische oder rechtsextreme Terroristen vorgehen. Die Toleranz gegenüber sicherheitspolitischen Maßnahmen ist aber enorm gewachsen.
Ein Beispiel ist der Umgang mit deutschen Terrorverdächtigen im Ausland. Als sich die Bundesregierung nach Ansicht der deutschen Öffentlichkeit nicht hinreichend um Murat Kurnaz gekümmert hatte, der in Guantanamo einsaß, gab es große Entrüstung. Heute sehen wir, dass sich über hundert deutsche terrorverdächtige Männer und Frauen in syrisch-kurdischen Gefängnissen und Lagern aufhalten. Als deutsche Staatsbürger haben sie ein Anrecht auf eine Rückkehr nach Deutschland. Dass die Bundesregierung sich da seit vier Jahren weigert zu handeln, findet in der Öffentlichkeit kaum einen Widerhall. Das ist ein Hinweis darauf, dass auch wir uns verändert haben. Viele Maßnahmen, die wir vor zwanzig Jahren noch für unvorstellbar oder skandalös gehalten haben, akzeptieren wir heute, wenn es sich denn um potenziell gefährliche Terroristen handelt. Und das gilt nicht nur für Deutschland.
Hat die Terrorismusbekämpfung zu sehr die militärische Seite des Konfliktes betont und Fragen von Identität, Bildung, Teilhabe und sozialem Ausgleich vernachlässigt?
Ich glaube nicht, dass das für Deutschland gilt. Wenn man insgesamt den Krieg gegen den Terror sieht, insbesondere in Afghanistan und Irak, ist die militärische Seite überbewertet worden. Auch bei Mali kann man so argumentieren, in Deutschland sehe ich das eher weniger, auch weil es bei uns fast keine militärische Terrorismusbekämpfung gibt. Seitdem das KSK vor 2008 in Afghanistan mitgekämpft hat, gibt es das nicht mehr. Unsere Sicherheitsbehörden haben aus meiner Sicht eher Schwächen in der repressiven Bekämpfung, während gleichzeitig eine große Präventions- und Deradikalisierungsindustrie entstanden ist. Ich wundere mich eher darüber, wieviele Präventionsprojekte es in Deutschland für die ein- bis zweitausend Dschihadisten hier gibt.
Was müsste geschehen, um die Zahl der dschihadistischen Akteure zu reduzieren?
Stabilität ist in der Regel das beste Gegenmittel, weil Staaten selbst meist gut in der Lage sind, die eigenen Terroristen zu bekämpfen. Dazu müssen die Staaten aber stabil sein und dazu gehört auch ein gewisses Maß an Legitimität sowie Ressourcen. Derzeit herrscht in vielen Weltregionen Instabilität. Man sieht das vor allem im Nahen Osten und Nordafrika seit 2011, im Irak schon seit 2003, in Afghanistan seit 2001. Diese Staaten müssen stabiler werden und aus sich heraus mit der eigenen Opposition und den eigenen Terroristen besser klarkommen. Geschieht dies nicht, wird sich die Lage nicht grundsätzlich verbessern. Die Fähigkeit auswärtiger Akteure wie der USA, der Russen oder Chinesen ist begrenzt, wenn sie weitab der eigenen Grenzen operieren.
Favorisiert Ihr Plädoyer für Stabilität nicht autoritäre oder gar diktatorische Regime und ist das letzlich eine Absage an Demokratie?
Fakt ist, ein stabiler autoritärer Staat wie etwa Saudi-Arabien ist einem Bürgerkriegsstaat vorzuziehen. Aber die Situation ist umso besser, je legitimer ein Regime ist. Ein starker autoritärer Staat wie Saudi-Arabien mag oberflächlich für Stabilität sorgen, aber sorgt vielleicht auch dafür, dass die Opposition den bewaffneten Kampf beginnt, wie Osama bin Laden das gemacht hat. Es wäre also viel besser, würde das Regime in Saudi-Arabien über noch mehr Legitimität verfügen.
Die Herrscher in Riad beteiligen ja schon die Bevölkerung an den Öleinnahmen und haben auch eine historische Legitimität, es sieht also nicht so schlecht aus wie anderswo. Momentan sind wir aber in einer Situation, in der Staaten wie Syrien, Libyen, Jemen oder vielleicht auch Irak vollkommen zerbrechen. Da ist autoritäre Stabilität erstmal besser – für die Menschen dort, für die Region und für uns. Zufrieden geben sollten wir uns damit nicht. Aber Afghanistan, Irak und Mali zeigen unsere Grenzen, solche Staaten tatsächlich auf eine neue Grundlage zu stellen.
Was wird vom Krieg gegen den Terror international bleiben?
Diese zwanzig Jahre werden eingehen als eine weitere Etappe im Abstieg des Westens in der Welt. Der Krieg gegen den Terror ist Teil einer Phase, die mit dem Ende des Kalten Krieges Mitte der 80er Jahre begann. Wir waren Zeugen einer Ära, in der vor allem die USA geglaubt haben, dass sie nicht nur die Weltpolitik bestimmen können, sondern auch die Politik in einzelnen sehr fremden Staaten wie etwa Afghanistan und Irak, also dass sie die Welt zum Besseren verändern können. Diese Illusion führte dazu, dass die Amerikaner große innenpolitische und wirtschaftliche Probleme haben und relativ zu China abgestiegen sind. Das wird das wichtigste Ergebnis bleiben. Ansonsten sind die Organisationen der Terrorszene heute etwas schwächer, aber die Gesamtszene stärker. Denn es gibt mehr junge Dschihadisten in mehr Ländern, die eine Bedrohung für ihre Gegner darstellen, zu denen auch China gehören wird.
Diese fragmentierte Szene werden wir noch einige Jahrzehnte erleben. Das zeigt auch das aktuelle Attentat in Kabul: Da bestimmen jetzt neue Akteure das Geschehen, die nicht mehr viel zu tun haben mit al-Qaida 2001. Wir können nur hoffen, dass wir das wenigstens in unser näheren Umgebung unter Kontrolle halten können.
(Langfassung des Interviews aus der Printausgabe der taz vom 31. August 2021)
Experte über Anti-Terror-Krieg nach 9/11: „Eine Etappe im Abstieg des Westens“
20 Jahre US-geführter „Krieg gegen den Terror“ haben den Terrorismus nicht besiegt. Ganz im Gegenteil, sagt der Islamwissenschaftler Guido Steinberg.
taz: Herr Steinberg, was sagen der Anschlag am Flughafen von Kabul letzte Woche und die Antwort der USA darauf über den 20 Jahre währenden Krieg gegen den Terror?
Guido Steinberg: Das ist der Versuch des Islamischen Staats, es so erscheinen zu lassen, als würden die Amerikaner jetzt unter seinem Feuer Afghanistan verlassen. Die Bilder werden die politischen Kosten des Abzugs für die Regierung Biden erhöhen. Der Anschlag zeigt, dass die Amerikaner ihr Ziel, den Terrorismus in Afghanistan und darüber hinaus auszumerzen, nicht erreicht haben. Der US-Drohnenangriff auf IS-Personal ist der Versuch, Stärke zu zeigen, doch wird er den Eindruck nicht beseitigen können, dass die US-Regierung überhastet abgezogen ist und so das Chaos am Flughafen mitversursacht hat, das den Anschlag erst möglich machte.
ist Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und war bis 2005 Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.
US-Präsident Biden hat den Abzug damit begründet, dass von Afghanistan aus kein internationaler Terroranschlag mehr verübt werden wird.
Dass einer Organisation gelingt, noch einmal einen Anschlag vom Ausmaß wie am 11. September zu verüben, ist zurzeit unwahrscheinlich. Aber in Afghanistan haben wir heute mehrere Gruppen, die darauf abzielen, Anschläge zu verüben – in Afghanistan, in Nachbarländern und vielleicht weltweit. Wir haben den IS, al-Qaida und kleine usbekische Gruppierungen. Das Terrorproblem ist nicht beseitigt. Biden hat versucht, seinen Abzug auf unzulässige Art zu beschönigen. Insgesamt gibt es 2020/21 mehr islamistische Terroristen an mehr Orten weltweit und die verübten in den letzten Jahren mehr Anschläge mit mehr Todesopfern als um 2001. Vor allem in Syrien, Irak und Afghanistan ist die Situation schlimmer als 2001.
20 Jahre nach ihrem Sieg über die Taliban konnten die USA jetzt deren Rückkehr an die Macht in Kabul nicht verhindern. Was bedeutet das politisch?
Das ist eine schwere Niederlage. Sie hat sich seit Februar 2020 abgezeichnet, als die Trump-Administration in ihrem Wunsch, Afghanistan zu verlassen, den Taliban das Land überlassen hat, ohne eigene Forderungen durchzusetzen.
Hat Trump nicht nur eingestanden, was offensichtlich war: dass die USA in Afghanistan militärisch nicht gewinnen konnten?
Dieser Text ist Teil des taz-Dossiers zu den Terroranschlägen vom 11. September vor 20 Jahren. Der Schwerpunkt erscheint in der Ausgabe vom 31. August. Unsere Autor*innen beschäftigen sich darin mit den Folgen des Anschlags. Wie haben sie ihn erlebt? Wie hängt 9/11 mit der Krise in Afghanistan zusammen? Welche Verschörungsmythen bestehen nach wie vor?
Das ist umstritten. Die meisten Beobachter gingen davon aus, dass man mit einer relativ kleinen Truppe von bis zu 15.000 Mann einen Zusammenbruch des Staates Afghanistan verhindern könne. Trump hatte nicht nur eine Option.
Welche Fehler haben die USA und ihre Verbündeten in der Sicherheitspolitik seit 9/11 gemacht?
Der größte Fehler vor allem der USA war, sich zu Überreaktionen hinreißen zu lassen. Terroristen wollen mit öffentlichkeitswirksamen Anschlägen den Gegner zu Fehlern provozieren. Die USA haben die Organisation al-Qaida zu einem großen weltweiten Netzwerk aufgeblasen, das es nun gelte, mit ganz großen Maßnahmen zu bekämpfen wie u.a. mit der Invasion in Afghanistan, der Verfolgung von al-Qaida-Terroristen und solchen, die man dafür hielt in vielen Ländern der Welt und dann mit dem Irak-Krieg. Das war nicht angemessen. Die Mitgliederzahl von al-Qaida ging nie über eine eher niedrige vierstellige Zahl hinaus. Auch Guantanamo fällt unter die Überreaktionen. Es hätte gereicht, Taliban als Kriegsgefangene zu nehmen und al-Qaida-Kämpfer mit Verbindungen zum 11. September vor Gericht zu stellen.
Der Krieg in Afghanistan war der erste Bündnisfall der Nato. Hat er die Nato verändert und ihrem Ruf geschadet?
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes war die wichtigste Funktion des Nordatlantischen Bündnisses weggefallen. Die Nato suchte Ersatzprojekte. Die Amerikaner sind mit großem Verve in den Afghanistan-Einsatz gegangen, haben aber gemerkt, dass ihre Verbündeten in ihrem Windschatten zumindest militärisch sehr wenig machen. Das hat dem Zusammenhalt geschadet. Das Verhalten der Deutschen im Norden Afghanistans, die sich ja fast konstant geweigert haben, am Kampf gegen die Taliban teilzunehmen, hat unser Verhältnis negativ beeinflusst.
Offiziell war der Krieg gegen den Terror eine Defensivreaktion der USA auf den 11. September. Doch wurde er nicht spätestens mit dem Irak-Krieg zu einem neo-imperialistischen Projekt, um hegemoniale Ziele durchzusetzen?
Das ist nicht mein Vokabular, aber die Beschreibung ist richtig. Der Krieg in Afghanistan war sicherheitspolitisch nachvollziehbar und gerechtfertigt, denn damit wurden diejenigen angegriffen, welche die Täter vom 11. September beherbergt hatten. Die Invasion des Irak aber hat mit dem 11. September nichts zu tun. Das Regime von Saddam Hussein hatte keine Beziehungen zu islamistischen Terroristen, im Gegenteil, er hat sie bekämpft.
In der Diagnose der Bush-Administration hatte der Irak mit dem 11. September zu tun, weil al-Qaida im Nahen Osten entstanden ist im Kampf islamistischer Bewegungen gegen ihre Regierungen in Kairo und Riad. Diese haben sie gewaltsam unterdrückt, worauf die Islamisten nach Afghanistan gezogen sind und von dort die USA angegriffen haben, um sie zum Rückzug aus Ägypten und Saudi-Arabien zu zwingen. Diese Diagnose war richtig, doch hat Bush den unverzeihlichen Fehler begangen, den Irak anzugreifen, um dort einen „Leuchtturm der Demokratie“ zu schaffen, der die Demokratisierung der gesamten Region ermöglichen und so die Entstehung von Terrororganisationen dort verhindern sollte. Das war schon damals eine absurde Idee.
Wurde mit Osama Bin Ladens Tötung 2011 al-Qaida besiegt?
Al-Qaida hatte sich schon seit 2003 durch die Schaffung von Regionalorganisationen in Saudi-Arabien, Algerien, Jemen und Irak verändert. Die haben häufig die terroristische Initiative übernommen. Aus der irakischen al-Qaida ist dann der IS hervorgegangen. Dieser Prozess war 2011 schon vollendet und al-Qaida war da schon geschwächt. Seit dem Anschlag in London 2005 hatte al-Qaida keinen großen Terroranschlag mehr in der westlichen Welt verübt. Bin Ladens Tötung war ein Ereignis in einer ganzen Kette, denn die Amerikaner töteten zwischen 2010 und 2012 die wichtigsten al-Qaida-Figuren in Pakistan. Das schwächte die Organisation erheblich und führte ab 2013/14 dazu, dass der IS erstarken und al-Qaida den Rang ablaufen konnte.
Wenn es heute weltweit mehr Dschihadisten als 2001 gibt, hat der Krieg gegen den Terror dann mehr Feinde produziert als besiegt?
Ursache und Wirkung nachzuweisen ist schwierig. Man wird nein sagen müssen, wenn man argumentiert, dass die Ideologie des Salafismus ursächlich ist für das Erstarken des Dschihadismus. Die Dschihadisten wären auch dann erstarkt, wenn die Amerikaner „vernünftiger“ reagiert hätten. Aber in einzelnen Konfliktfeldern kann man schon nachweisen, dass die Präsenz der Amerikaner zu einer besonders heftigen Gegenreaktion geführt hat. 2008/09 zählten die Taliban einige Zehntausend, heute sprechen wir von über 100.000 Kämpfern, die an der Offensive teilgenommen haben.
Nennen Sie ein Beispiel für eine Gegenreaktion.
Insgesamt war der Ansatz der USA zu breit, es lag weniger an einzelnen Maßnahmen. Die Behandlung Gefangener in Guantanamo oder Abu Ghraib war ein Verbrechen. Aber dass sich deswegen junge Leute den Taliban oder Dschihadisten anschließen, ist nicht nachzuweisen. Nachweisen kann man hingegen, dass jede Intervention in der islamischen Welt dazu führte, dass sich die Dschihadisten neue Rekrutierungspools erschließen konnten. Zum Beispiel das Vorgehen der Russen 1999 in Tschetschenien. Da haben sich viele Türken den Dschihadisten angeschlossen, weil Tschetschenien für sie aus historischen Gründen so wichtig ist. Auch der Irak-Krieg 2003 hatte eine enorme Mobilisierungsfunktion und natürlich auch Syrien. Das war die wichtigste Etappe im letzten Jahrzehnt und hat mobilisiert in einer Art, wie sich das niemand hat vorstellen können.
Vor allem die Präsenz von Ausländern in einem Gebiet, das Muslime für sich beanspruchen, mobilisiert. Denn die Idee, dass Muslime sich dagegen zu wehren haben, ist sehr wirkmächtig.
Im Syrien-Konflikt spielen die USA nur eine Nebenrolle.
Richtig. Ursächlich für das Erstarken der Terroristen sind neben amerikanischen Interventionen auch die russische in Tschetschenien 1999 und die äthiopische in Somalia 2006 sowie der Kampf von Regimen wie in Syrien gegen ihre eigene Bevölkerung.
Hat der Krieg gegen den Terror dem Ruf der USA geschadet?
Viele Einzelmaßnahmen haben dem Ruf der USA geschadet, am meisten der Irak-Krieg. Der war ein schwerer Fehler. Er hat den USA selbst viel mehr geschadet als genützt. Die enormen Kosten stehen in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Die Amerikaner haben ein halbwegs stabiles Regime gestürzt und an seine Stelle eine Regierung gesetzt, die sie den Iranern auslieferten. Nur noch einige tausend US-Soldaten stehen einer fast vollständigen iranischen Machtergreifung im Irak im Wege. Fast alle Beobachter schütteln den Kopf, dass eine Supermacht in ihrem politischen Urteil so falsch liegen kann.
Hat der Krieg gegen den Terror Chinas Aufstieg beschleunigt?
Das kann man wohl sagen. Zwar ist Chinas Aufstieg unabhängig von den Ereignissen in Afghanistan oder im Irak, aber der relative Abstieg der USA hat mit den dortigen Kriegen und ihren enormen Kosten zu tun. Der machtpolitische Vorsprung auf die Chinesen und die Russen ist in dieser Zeit geschrumpft. Bisher ist das nur ein relativer Abstieg, aber drei amerikanische Regierungen haben inzwischen die Konzentration auf den Nahen Osten und Afghanistan als Fehler gesehen: Obama hat vom „Pivot to Asia“ gesprochen, Trump hat China als wichtigsten Konkurrenten ausgemacht und im Umfeld von Biden wird gar von einer Art neuem Kalten Krieg gesprochen.
China hat ein Terrorismusproblem mit militanten Uiguren. In China werden Muslime stark unterdrückt. Warum sind die USA für Dschihadisten trotzdem der Erzfeind, während niemand zum Dschihad gegen Peking aufruft?
Die Amerikaner waren in den 90er Jahren die verbleibende Supermacht und auch diejenige, die in den Heimatländern der Dschihadisten besonders stark vertreten war, also etwa in Saudi-Arabien, Ägypten, Pakistan, Afghanistan, Irak. Das macht die USA zu einem natürlichen Gegner. In dem Maße aber, in dem China ebenfalls zur Supermacht wird mit Interessen in all den Staaten, werden auch Chinesen zum Gegner.
Es stimmt, dass China in der Behandlung der „eigenen“ Terroristen noch viel brutaler reagiert hat. Was ich als amerikanische Ãœberreaktion beschrieben habe, sehen wir auch bei den Chinesen. Es gibt einige hundert uigurische Terroristen, die vor einigen Jahren wenige Messeranschläge verübt haben, was nur wenig Einfluss auf die innere Sicherheit Chinas hatte. Doch die Chinesen versuchen inzwischen zehn, elf Millionen Uiguren vollständig „umzuerziehen“ und ihre Identität auszulöschen. Chinas Ãœberreaktion ist viel schlimmer, aber auch viel effektiver.
Zur Terrorbekämpfung wurden weltweit sogenannte Sicherheitsgesetze verschärft. Wie hat sich das auf die politische Kultur bei uns ausgewirkt?
Das deutsche Beispiel ist nicht so aussagekräftig, weil sich die sicherheitspolitischen Reformen in einem engen Rahmen bewegt haben und das zugleich nicht dazu geführt hat, dass unsere Sicherheitsbehörden effektiv gegen islamistische oder rechtsextreme Terroristen vorgehen. Die Toleranz gegenüber sicherheitspolitischen Maßnahmen ist aber enorm gewachsen.
Ein Beispiel ist der Umgang mit deutschen Terrorverdächtigen im Ausland. Als sich die Bundesregierung nach Ansicht der deutschen Öffentlichkeit nicht hinreichend um Murat Kurnaz gekümmert hatte, der in Guantanamo einsaß, gab es große Entrüstung. Heute sehen wir, dass sich über hundert deutsche terrorverdächtige Männer und Frauen in syrisch-kurdischen Gefängnissen und Lagern aufhalten. Als deutsche Staatsbürger haben sie ein Anrecht auf eine Rückkehr nach Deutschland. Dass die Bundesregierung sich da seit vier Jahren weigert zu handeln, findet in der Öffentlichkeit kaum einen Widerhall. Das ist ein Hinweis darauf, dass auch wir uns verändert haben. Viele Maßnahmen, die wir vor zwanzig Jahren noch für unvorstellbar oder skandalös gehalten haben, akzeptieren wir heute, wenn es sich denn um potenziell gefährliche Terroristen handelt. Und das gilt nicht nur für Deutschland.
Hat die Terrorismusbekämpfung zu sehr die militärische Seite des Konfliktes betont und Fragen von Identität, Bildung, Teilhabe und sozialem Ausgleich vernachlässigt?
Ich glaube nicht, dass das für Deutschland gilt. Wenn man insgesamt den Krieg gegen den Terror sieht, insbesondere in Afghanistan und Irak, ist die militärische Seite überbewertet worden. Auch bei Mali kann man so argumentieren, in Deutschland sehe ich das eher weniger, auch weil es bei uns fast keine militärische Terrorismusbekämpfung gibt. Seitdem das KSK vor 2008 in Afghanistan mitgekämpft hat, gibt es das nicht mehr. Unsere Sicherheitsbehörden haben aus meiner Sicht eher Schwächen in der repressiven Bekämpfung, während gleichzeitig eine große Präventions- und Deradikalisierungsindustrie entstanden ist. Ich wundere mich eher darüber, wieviele Präventionsprojekte es in Deutschland für die ein- bis zweitausend Dschihadisten hier gibt.
Was müsste geschehen, um die Zahl der dschihadistischen Akteure zu reduzieren?
Stabilität ist in der Regel das beste Gegenmittel, weil Staaten selbst meist gut in der Lage sind, die eigenen Terroristen zu bekämpfen. Dazu müssen die Staaten aber stabil sein und dazu gehört auch ein gewisses Maß an Legitimität sowie Ressourcen. Derzeit herrscht in vielen Weltregionen Instabilität. Man sieht das vor allem im Nahen Osten und Nordafrika seit 2011, im Irak schon seit 2003, in Afghanistan seit 2001. Diese Staaten müssen stabiler werden und aus sich heraus mit der eigenen Opposition und den eigenen Terroristen besser klarkommen. Geschieht dies nicht, wird sich die Lage nicht grundsätzlich verbessern. Die Fähigkeit auswärtiger Akteure wie der USA, der Russen oder Chinesen ist begrenzt, wenn sie weitab der eigenen Grenzen operieren.
Favorisiert Ihr Plädoyer für Stabilität nicht autoritäre oder gar diktatorische Regime und ist das letzlich eine Absage an Demokratie?
Fakt ist, ein stabiler autoritärer Staat wie etwa Saudi-Arabien ist einem Bürgerkriegsstaat vorzuziehen. Aber die Situation ist umso besser, je legitimer ein Regime ist. Ein starker autoritärer Staat wie Saudi-Arabien mag oberflächlich für Stabilität sorgen, aber sorgt vielleicht auch dafür, dass die Opposition den bewaffneten Kampf beginnt, wie Osama bin Laden das gemacht hat. Es wäre also viel besser, würde das Regime in Saudi-Arabien über noch mehr Legitimität verfügen.
Die Herrscher in Riad beteiligen ja schon die Bevölkerung an den Öleinnahmen und haben auch eine historische Legitimität, es sieht also nicht so schlecht aus wie anderswo. Momentan sind wir aber in einer Situation, in der Staaten wie Syrien, Libyen, Jemen oder vielleicht auch Irak vollkommen zerbrechen. Da ist autoritäre Stabilität erstmal besser – für die Menschen dort, für die Region und für uns. Zufrieden geben sollten wir uns damit nicht. Aber Afghanistan, Irak und Mali zeigen unsere Grenzen, solche Staaten tatsächlich auf eine neue Grundlage zu stellen.
Was wird vom Krieg gegen den Terror international bleiben?
Diese zwanzig Jahre werden eingehen als eine weitere Etappe im Abstieg des Westens in der Welt. Der Krieg gegen den Terror ist Teil einer Phase, die mit dem Ende des Kalten Krieges Mitte der 80er Jahre begann. Wir waren Zeugen einer Ära, in der vor allem die USA geglaubt haben, dass sie nicht nur die Weltpolitik bestimmen können, sondern auch die Politik in einzelnen sehr fremden Staaten wie etwa Afghanistan und Irak, also dass sie die Welt zum Besseren verändern können. Diese Illusion führte dazu, dass die Amerikaner große innenpolitische und wirtschaftliche Probleme haben und relativ zu China abgestiegen sind. Das wird das wichtigste Ergebnis bleiben. Ansonsten sind die Organisationen der Terrorszene heute etwas schwächer, aber die Gesamtszene stärker. Denn es gibt mehr junge Dschihadisten in mehr Ländern, die eine Bedrohung für ihre Gegner darstellen, zu denen auch China gehören wird.
Diese fragmentierte Szene werden wir noch einige Jahrzehnte erleben. Das zeigt auch das aktuelle Attentat in Kabul: Da bestimmen jetzt neue Akteure das Geschehen, die nicht mehr viel zu tun haben mit al-Qaida 2001. Wir können nur hoffen, dass wir das wenigstens in unser näheren Umgebung unter Kontrolle halten können.
(Langfassung des Interviews aus der Printausgabe der taz vom 31. August 2021)
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